Schule des Lebens: 60 Münzen für den Klassenausflug
Das Belohnungssystem des Schweizer Grundschullehrers Tim Schriber basiert auf Münzen. Doch es geht dabei um viel mehr als Motivation allein
„Ich glaube, dass meine Geschichte nicht allzu spektakulär ist“, winkt Tim Schriber bescheiden ab. Das sehen seine Schüler anders. Es ist Freitagnachmittag. Gerade ist der Primarlehrer vom Unterricht nach Hause gekommen, wieder liegt eine Woche voller aufregender Unterrichtsstunden hinter ihm und seinen Viertklässlern in Winkel, einer malerischen Gemeinde im Schweizer Kanton Zürich. Als Klassenlehrer einer vierten Klasse unterrichtet der 34-jährige Pädagoge alle wichtigen Fächer selbst, und das noch zwei Jahre lang – bis die Kinder ab der siebten Klasse auf weiterführende Schulen wechseln.
Für die Grundschuljahre hat sich der 34-Jährige etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Münzen als Anreiz. Speziell für seine 21 Viertklässler hat Tim Schriber zwei Arten derselben Münze zur Motivation prägen lassen – einen Stapel Münzen für die Jungen, einen für die Mädchen.
Darauf ist das Logo der Schule zu sehen: „Schule Winkel“. Auf der Rückseite sind im Kreis die Namen der Kinder angeordnet – die der Jungen auf der einen Münze, die der Mädchen auf der anderen. „Sonst wäre es ein bisschen eng geworden mit dem Design“, sagt Tim Schriber lächelnd. In der Mitte nehmen vier Hände den Blick ein, die nacheinander greifen – ein Symbol für Zusammenhalt.
Es ist nicht das erste Mal, dass der Lehrer Münzen zur Motivation im Unterricht einsetzt. Schon früher hat er Münzen bei derTaler prägen lassen, für andere Klassen, immer mit unterschiedlichem Design. Das kam so gut an, dass es ihn darin bestärkte weiterzumachen. Die aktuelle Münze gehören zu Schribers Belohnungssystem, das er für die Klasse eingerichtet hat.
Ansparen, tauschen, einlösen – ganz spielerisch
Und das funktioniert so: Die Kids können die Münze sammeln. Sie bekommen sie dann, wenn sie sich fair und sozial verhalten. Aber auch, wenn ihr Lehrer eine Art unterrichtsbezogenen Wettbewerb ausruft, in dem die Kinder bestimmte Ziele erreichen müssen. Etwa die Hausaufgabe, sich Englischvokabeln einzuprägen. Wer von zehn Wörtern sieben beherrscht, erhält eine Münze. Dasselbe gilt für Aufgaben jeglicher Art in den anderen Fächern. Doch das ist erst der Anfang.
Denn wenn die Kinder eine bestimmte Anzahl Münzen „angespart“ haben, können sie sie eintauschen für Belohnungen, die sie selbst wählen. Und das sind keine materiellen Belohnungen. Für 15 Münzen zum Beispiel dürfen sie sich ein Spiel im Sport wünschen; mit 60 Münzen lösen sie einen Tagesschulausflug ein, dessen Ziel die Kinder bestimmen dürfen.
„Die Kinder entscheiden selbstbestimmt, was sie wofür einsetzen wollen und überlegen sich, welche Art Belohnung es sein soll. Und sie entscheiden auch über den Wert der Belohnung“, sagt Tim Schriber. Das ist ihm wichtig.
Denn die Münzen zur Motivation sind weitaus mehr als eine 1:1-Belohnung für gute Leistungen. Und mehr auch als ein ausgeklügeltes Motivationssystem für soziales Verhalten. Mithilfe der Münzen lernen die Zehnjährigen, wie es sich anfühlt, selbstständig und im Team Entscheidungen zu treffen, Werte abzuwägen, Gemeinschaftssinn zu entwickeln. Und so ganz nebenbei verstehen sie auch noch, wie Demokratie funktioniert. Ganz spielerisch.
Abstimmungen und Austausch: Demokratie im Mini-Format
Dass es zum Beispiel 60 Münzen sein sollen für den Wandertag und nicht 50, haben die Kinder gemeinsam im Klassenrat entschieden. „Sie votieren für den Wert, diskutieren, warum eine Belohnung sinnvoll ist und warum nicht, und dann wird abgestimmt“, beschreibt Tim Schriber den Ablauf.
Doch nicht nur an Politik und gesellschaftliche Fragen führt der Lehrer seine Grundschüler auf diese Art und Weise heran. Auch mit ersten wirtschaftlichen Fragestellungen, denen sie später im alltäglichen Leben immer wieder begegnen werden, lernen sie dank der Motivations-Münzen umzugehen. Genau das ist das Ziel des Lehrers: ein Wettbewerb – ethisch, praktisch und lebensnah.
Tim Schribers Anliegen ist es, die Kinder in ihrer persönlichen Entwicklung zu stärken und zu fördern – und das in Verbindung mit dem Unterrichtsstoff. Sein Münz-Belohnungssystem hat er sich selbst ausgedacht. Und dabei im Laufe der Zeit interessante Beobachtungen gemacht: Manche Kinder heben sich ihre Belohnungsmünzen auf, bis sie genug zusammengespart haben, um sie für „wertvollere“ Belohnungen einzulösen. Ihren Klassenkameraden sind hingegen andere Werte wichtig – sie lösen bereits fünf Münzen für vermeintlich kleinere Belohnungen ein.
Bei den Kindern kommt das Münzsystem gut an. Einige Eltern hingegen waren anfangs skeptisch. Doch inzwischen stehen alle dahinter, denn es wurde rasch klar, wie viel mehr hinter den Belohnungen steckt: Austausch, Miteinander, Selbstbestimmtheit, Beteiligung an Entscheidungen über das eigene Lernverhalten, Nachdenken über eigene Motivation.
„Nur das Theoretische alleine bringt nichts“, ist Tim Schriber überzeugt. „Die Kinder müssen diese vielfältigen Erfahrungen machen. Dazu gehört auch, dass sie mal eine Münze verlieren können.“
Münzen eröffnen Perspektiven
Denn es ist nicht so, dass es keine Regeln mehr gibt – die gelten natürlich trotz des Münz-Belohnungssystems. Wenn etwa ein Schüler immer wieder mehrmals hintereinander trotz Ermahnungen den Unterricht stört, kann es passieren, dass der Lehrer ihm eine Motivations-Münze abnimmt. „Das wird aber angekündigt“, sagt Schriber. „Die Schüler haben zwei Chancen, ihr Verhalten anzupassen.“
Und noch etwas ist fester Bestandteil des Konzepts: Wöchentlich wird über die „Münz-Politik“ gesprochen, das System auf den Prüfstand gestellt. Das gehöre zum demokratischen Prozess dazu, meint der Schweizer Pädagoge. Seine Meinung zu äußern, zu diskutieren, überstimmt zu werden.
Tim Schriber nimmt jede Rückmeldung ernst. „Demokratie ist nie einfach – es bedeutet viel Arbeit, es bedeutet, andere Meinungen anzuhören, stehenzulassen, zu respektieren. 21 Kinder und ein Lehrer – das sind schon mal 22 Meinungen“, sagt Schriber lachend.
Auch für die Zukunft eröffnen die Motivations-Münzen Perspektiven: Während die einen zum Sparen neigen, geben die anderen das Geld aus und investieren es. Auch das hat die Eltern überzeugt: dass ihre Sprösslinge nicht nur für die Schule lernen – sondern fürs Leben.